Rungs! Die Zugbegleiterin reißt die Tür auf, holt uns aus den schönsten Träumen und gibt zu verstehen, dass wir in einer Stunde den Bahnhof erreichen. Außerdem würde die Toilette eine halbe Stunde vor Ankunft geschlossen werden. Diese ist übrigens noch in unglaublich gutem Zustand, mal rein hygienisch betrachtet. Kein Urinsee auf dem Fußboden, keine vollgepisste Klobrille, kein beißender Geruch. So gehört sich das, und es zeigt sich, dass gegenseitige Rücksichtnahme erfolgreich praktiziert werden kann.
Fein, wir sind da. Rücksäcke schnappen, raus aus dem Zug, orientieren. Der Bahnhof ist schon recht groß. Wir eiern in morgendlicher Benommenheit ziemlich verpeilt durch das Gebäude auf der Suche nach einer Toilette und einer Gelegenheit, sich ein Wenig frisch zu machen. Auf dem überfüllten Bahnhofsklo gibt es Waschbecken, immerhin. Wir schauen aber weiter und finden doch tatsächlich eine Duschgelegenheit. Es gibt dort eine „Gastiniza“ für Touristen, also eine Art Hotel auf russisch, gleich im Obergeschoss des Bahnhofs. Man hat sich dort offensichtlich auf das Bedürfnis von Zugreisenden eingestellt, nicht 4 oder 5 Tage lang ohne Dusche auskommen zu wollen. Für umgerechnet drei Euro pro Abenteurer können wir ausgiebig die gepflegte Nasszelle genießen, frische Handtücher gibt es auch dazu. Eine Wohltat!
So erfrischt geht es nun auf Erkundungstour. Da der Tag gerade erst beginnt, sehen wir die Stadt erwachen. Das ist toll anzuschauen, und so langsam sagt auch der Magen „Guten Morgen“. Das Interesse gilt also vorerst dem Finden von Futter. Vom ewigen Brot haben wir langsam die Nase voll und peilen ein Plätzchen an, das auf ein vernünftiges Frühstück hoffen lässt. Fündig werden wir irgendwo in der City. Ab in den Keller eines Hauses in der Ladenstraße, wo sich eine hübsche Lounge befindet. OK, sicher Geschmackssache. Barbie jedenfalls würde sich wohlfühlen in dem Ambiente aus pinkfarbenem und gelbem Licht, Ledersitzmöbeln, Flachbildfernseher an den Wänden und den Klängen aktueller russischer Chartbreaker. Das bestellte Frühstück fällt etwas sparsam aus, sodass noch ein großes Stück Kuchen fällig wird. Spontan beschließen wir, die hübsche und gut Englisch sprechende Bedienung zu heiraten und in Novosibirsk sesshaft zu werden. Deshalb wollen wir auch gleich mehr von unserer zukünftigen Heimatstadt kennen lernen und lassen uns von Ekatherina (Name wie immer frei erfunden und völliger Blödsinn) auf unserer neu erworbenen Stadtkarte ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen. Aus der Hochzeit ist dann doch nichts geworden, da wir uns nicht einigen konnten, wer von uns der Glückliche sein darf. Die auf der Karte eingetragenen Ziele steuern wir trotzdem an. Darunter befinden sich eine recht sinnfreie Militärausstellung in einem Park und ein Springbrunnen vor der Unibibliothek, der so ganz und gar nicht springen mag.
Novosibirsk ist an sich ein tristes, graues Kaff. Die sibirische Hauptstadt bietet absolut nichts, was einen längeren Aufenthalt rechtfertigen würde, mal von Ekatherina abgesehen. Zum Mittag nehmen wir Platz in einem beliebigen Restaurant, denn wer weiß schon, wo man hier am besten speist. Zu unserer Überraschung wartet im Lokal unserer Wahl eine angenehme deutschsprachige Bedienung. Auch das Essen, was hier möglicherweise grad zur Nebensache degradiert wird, ist vorzüglich. Gestärkt geht es auf die Straßen zurück. Irgendwo in Bahnhofsnähe findet sich ein freies WLAN für die süchtigen Touris. Klar, ein unverschlüsselter Router einer Privatwohnung ist das, und zu dessen Nutzung bleiben wir mitten im städtischen Rummel stehen und surfen. Wie blöd.
Um auf der anstehenden Fahrt mit der Transsib nicht zu verhungern, kaufen wir noch reichlich Lebensmittel ein. Es muss lustig ausgesehen haben, als wir am Zug ankamen. Jedenfalls bekommt die eine Zugbegleiterin einen Lachanfall und kann nur mit Mühe und Tränchen in den Augen unsere Tickets abreißen. Sind vier volle Tüten pro Person etwa zuviel? Rein kommen wir trotzdem und werden vom Personal etwas knurrig empfangen. Auch die Platzwahl in der Kabine hat sich schnell erledigt, denn zu wählen gab es nichts, es wurde zugewiesen. Drei Leute waren wir im Viererabteil, eine Berührung des frei gebliebenen Bettes wurde mit einem Donnerwetter einer Zugbegleiterin quittiert. Da Gewitter toll ist, geben wir uns den Spaß öfter mal, hihi.
Der Wagen ist praktisch baugleich mit dem letzten, in dem wir gefahren sind. Nur die Ausstattung ist anders. Bessere Materialien, eine um wenige Zentimeter modifizierte Geometrie für mehr Beinfreiheit auf der Liegefläche, schicke Gardinen und Pflänzchen an den Fenstern – niedlich. Nach Abfahrt ist auch zu spüren, dass die Dämmung weitaus besser ist, denn vom Poltern der Räder auf den Schienen dringen sowohl Vibrationen als auch Geräusche nur sparsam in den Innenraum. Und welch Überraschung erwartet uns: Wir sind offensichtlich im Besitz eines hochklassigen Tickets mit Verpflegung. Aber schön, dass wir nochmal ordentlich einkaufen waren. Das gereichte Wasser schmeckt allerdings wie Spülmittel, sodass wir dann doch lieber auf eigene Reserven zurückgreifen. Die Bediensteten des Speisewagens reichen einmal täglich eine warme Mahlzeit. Sie sind jung und hübsch, tragen breite Gürtel, die wohl Röcke darstellen sollen, sind aber zickig, unhöflich und praktisch zu nichts zu gebrauchen.
Es geht ruhig zu im Wagen. Keine Action, kein Lärm, eigentlich kein gar nichts. Nennen wir es einfacherweise todlangweilig! Und ein klitzekleines Bisschen spießig obendrein. Die Dame im Abteil, Mutter eines Offiziers, ist misstrauisch uns gegenüber, wir werden nicht warm mit ihr. In Anbetracht der Situation, dass sie allein ist und wir zu zweit, sollte der unangenehmere Part aber bei ihr liegen. So, Zeit für ein Bier!