Der Prof hatte bereits am Vortag ein gewisses Unverständnis für Unpünktlichkeit angedeutet. Klar, gebongt. Wir als pflichtbewusste Deutsche können da natürlich den Ruf der Nation nicht aufs Spiel setzen und stehen 5 Minuten vor der ausgemachten Zeit auf der Matte. Unser Gastgeber macht sich bereits putzmunter am Herd zu schaffen und brutzelt leckere Sachen. Wobei sich noch zeigen muss, ob man da wirklich von „lecker“ sprechen kann. Und doch, da hat er was Feines gezaubert, der alte Mann mit dem perfekt getrimmten Kinnbart und dem silbernen Brusthaartoupée. Er lief immer „oben ohne“ rum und konnte sich das für seine 77 Jahre sicher auch leisten.
Unsere jugendlich-saloppe Leichtigkeit stellt sich im Hause des Meisters als mitunter unpassend dar. Es wäre wohl angemessen gewesen, den Löffel zu benutzen, um die Butter unter das Gretschka zu rühren. Jedenfalls ist das nicht die einzige Aktion, die mit einer gewissen Penibilität beäugt wird. Die Teetasse führen wir aber dann stil- und zielsicher zum Munde, trinken den leicht gesüßten Aufguss wohlerzogen ohne Schlürfen und umgehen damit die lauernde Schelte. Nach dem köstlichen Mahl wollen wir starten. Aber dumm gelaufen. Was hat man doch als Student gelernt? Wenn du dem Professor aus dem Weg gehen willst, dann komm gar nicht erst zur Vorlesung. Daran hätten wir gut getan, denn die kommende Stunde gibt’s nach der Einführungsveranstaltung vom Vortag jetzt die erste vertiefte Fachvorlesung. Den Endpunkt bestimmt diesmal aber rotzfrech das Auditorium, das dringend noch ein Praktikum im Kreml absolvieren muss.
Genau dahin starten wir mit entsprechender Verspätung. Nur gut, dass wir am Vorabend die Kasse gesucht hatten. Die finden wir nämlich gleich wieder, unglücklicherweise ohne Kassierer und ohne Tickets und ohne geöffnet zu haben. Hat der Pressluftschuppen doch heute tatsächlich Ruhetag. Schöne Scheiße, Tagesplan von russischer Willkür durchkreuzt!
Die Alternative ist nur wenige Fußminuten entfernt, wir stellen uns dann mal an der Warteschlange zum Lenin-Mausoleum an. Bereits am Eingang sitzen brilliante Kopien von den allseits bekannten Genossen Stalin und Lenin. Die hätten durchaus von Madame Tussauds sein können, haben sich aber dummerweise bewegt. Erstaunlich schnell sind wir drin im ehrwürdigen Marmorbunker, und zur Freude unserer geplünderten Reisekasse kostet die ganze Geschichte nicht einmal Eintritt. Die Stimmung ist düster. OW latscht lässig mit Händen in den Taschen rein. Ein Wächter weist ihn äußerst bestimmend, wenn auch nonverbal, darauf hin, dass das keine willkommene Aktion ist. Und dann gehen wir an ihm vorbei, dem Messias der Kommunisten, dem besterhaltenen verschiedenen Russen aller Zeiten. Der Bart ist perfekt wie eh und je, für deutsche Verhältnisse nur bedenklich weit unter die Lippen gerutscht. Der Staat investiert jährlich einen Millionenbetrag für die Konservierung der Leiche. Was tut man nicht alles für eine Lichtgestalt, die schon lange nicht mehr leuchtet, aber irgendwie ja doch. Rund eine Minute dauert das Schauspiel, denn stehen bleiben ist nicht gestattet. Soviel dazu. Aber doch, es ist ein Erlebnis, das man sich als Moskau-Tourist antun sollte, da besteht kein Zweifel.
Was tun mit dem angebrochenen Tag? Wir wollen die berühmte Schokoladenfabrik besuchen. Mist, Einlass nur geführt und für Gruppen. Weiter geht es nach einem Imbiss zum Monument Park, wo lustige Figuren zum Bestaunen locken. In diesem Areal wurden nach der Entsovjetisierung alle möglichen ausgemusterten Denkmäler, Statuen und Bildnisse von berühmten historischen Persönlichkeiten aus Politik, Kunst, Militär und sonstwo abgeladen. Was mit einem Schmunzeln beginnt, entwickelt sich zu einer wahren Freude über den Mix aus alten Wahrzeichen und neuen Kunstwerken. Der Park wird zum Ende hin zunehmend schöner und gepflegter, sodass der Spaziergang durch die verwundenen Wege kurzweilig ist. Ein kurzer heftiger Schauer geht über Moskau hernieder und zwingt uns zu einer Bierpause unter dem schützenden Dach der Parkgaststätte. Es geht weiter zu Buratino, anschließend entspanne ich kurz auf einem besonderen Zeugnis russischer Ingenieurskunst. Sah auf dem Foto dann echt saublöd aus, der Sascha allein auf der Liebesschaukel.
Der Nachmittag ist noch jung, und so machen wir uns auf zu einer Runde U-Bahn-Hopping. Das verspricht Spannung, denn die Moskauer Metro ist nicht nur die schnellste ihrer Sorte in Europa, sondern vermutlich auch die schönste. Jede Station ist von liebe- und sinnvoll stilisierten Wänden und Decken geprägt, wahre Kunstwerke. Stört es eigentlich die mobilen Massen, dass wir mitten im Weg stehen und wie die Götzen an die Decke starren? Wir überleben unverletzt, und das zur Rush Hour.
Nach rund drei Stunden gehen wir noch gepflegt russisch essen (nein, nicht wieder ein russisches Edelrestaurant mit gelbem M) und nehmen unterwegs noch die obligatorischen T-Shirts mit. Heim geht’s! In der Nähe unserer Bleibe holen wir etwas Bier für den Abend, was wir bei bestem WLAN-Empfang und Straßenlärm genießen.